Lothar Conitzer – ein jüdischer Arzt in Hamburg

Tornquiststrasse 9 gibt es nicht mehr

Die Tornquiststrasse ist jetzt eine Fahrradstrasse. Auf der wir zweimal die Woche zum Turnen unserer Tochter fahren. Die Tornquiststrasse kreutzt den Doormannsweg, eine vierspurige Strasse. Lothar Conitzer wohnte von 1908 bis 1939 auf dieser Kreuzung Tornquiststrasse, Doormannsweg, als es noch keine Kreuzung war.  Jede Woche fahren wir also mindestens zweimal durch sein Wohnzimmer.

Erste Schritte ins Leben 

Lesser (genannt Lothar) Conitzer wurde am 7. Februar 1865 in Jeschewo (polnisch: Jezewo) als 7. Kind geboren. Jeschewo ist ein kleines Dorf in Westpreussen im heutigen Polen. Die nächste Stadt ist Schwetz an der Weichsel (polnisch: Swiece). Bis nach Danzig sind es ca. 100km und Berlin erreicht man nach ca. 400km. Er war der Jüngste von sieben Geschwistern. Sein Opa war Kaufmann und später Lehrer. Er hatte es zu bescheidenen Wohlstand gebracht und ermöglichte es Moses, dem Vater von Lothar, sich in dem kleinen Dorf Jeschewo, als Kaufmann im kleinen Maßstab zu etablieren. Alle vier Brüder von Lothar wurden Kaufleute und gründeten 1882 zusammen in Marienwerder mit seinem Vater Moses den Kaufhaus Konzern M. Conitzer & Söhne, der in seiner Blütezeit 22 Kaufhäuser betrieb [7]. Einer der Kaufmannsbrüder ist der Ur-Ur-Opa meiner Frau. Vor allem durch die gegenseitige Unterstützung innerhalb der Familie konnten sich alle Mitglieder einen gewissen Wohlstand aufbauen, dadurch hatte Lothar Conitzer, als einziger der Familie, die Möglichkeit, in Berlin und Halle Medizin zu studieren. In Berlin studierte er unter Prof. Dr. Du Bois Reymond [4], der zu den „Begründern der modernen Physiologie als naturwissenschaftliche Disziplin“ gehörte. Seine Doktorarbeit schrieb er in Halle. Sie hatte den Titel „Über die operative Behandlung der pleuritischen Exsudate im Kindesalter mit besonderer Berücksichtigung der eitrigen“. [3]

Angekommen in Hamburg

Er bekam 1892 eine Anstellung im jüdischen Krankenhaus Hamburg. Im Jahr 1894 bekam er seine staatliche Approbation und eröffnete eine Praxis im Eppendorfer Weg [1]. Er heiratete dann im Jahr 1900 Frieda (Rika)  [2].

Lothar und Frieda Conitzer

Frieda wurde als kleines Kind von dem Hamburger Kunsthändler Ludwig Lewy und seiner Frau Minna adoptiert. Sie wuchs in ihrem Haus An der Alster 74 auf. Dort steht jetzt das Hotel Atlantic, das im Jahr 1909 gebaut wurde. Ihre leiblichen Eltern starben, als sie vier Jahre alt war.

Frieda Lewy wahrscheinlich mit ihrer Adoptivmutter Minna

Lothar Conitzer und seine Frau Frieda (Rika) zogen 1908 in ihr eigenes Haus in die Tornquiststrasse 9, dort wohnten sie mit ihren drei Kindern: Ludwig, Margarete und Manfred.

Margarete, Manfred und Ludwig

Es war ein großes Haus. Es hatte 3 Etagen, eine Zentralheizung, einen Speiselift und einen Weinkeller. Die Familie beschäftigte eine Köchin, ein Hausmädchen, ein Kinderfräulein, eine Sprechstundenhilfe, einen Gärtner und einen Chauffeur. Im Parterre befand sich die Küche, Vorratsräume und die Bäder. In der 1. Etage hatte Lother Conitzer seine Praxis eingerichtet. In der 2. Etage wohnte die Familie und es gab einen Salon, wo oft grosse Gesellschaften eingeladen waren und bis zu 30 Personen bewirtet wurden.Die Tornquiststrasse 9 war der Treffpunkt vieler Ärzte und Akademiker aus Hamburg. Seine Praxis lief hervorragend: er konnte weitere Immobilien in Hamburg kaufen und einige Aktien an unterschiedlichen Firmen. Lother Conitzer hatte sich in Hamburg etabliert. Er war ein wohlhabender Bürger der Stadt.

Lothar Conitzer liebte deutsche Maler und es hingen viele Gemälde in seinem Haus. Er war ein Philanthrop, schrieb seine Enkelin über ihn [5]. Im Ersten Weltkrieg behandelte er beispielsweise einen jungen Künstler und bekam als Gegenleistung ein Bild seiner Tochter gemalt. Frieda Conitzer liebte die Oper und sie konnte jederzeit, es brauchte nur einen kleinen Anlass, ein Lied aus einer berühmten Oper anstimmen. Sie liebte ihren Salon und die Gesellschaften, die sie dort empfangen konnte.

Die Flucht

Ab dem Jahr 1935 konnte Lothar Conitzer immer weniger Patienten behandeln. 1938 wurde das Praktizieren als Arzt durch die Änderungen der Gesetze unmöglich und er musste seine Praxis schließen. Seine Häuser verkaufte er weit unter Preis an Hamburger Arier. Er wanderte 20.10.1938, kurz vor der Reichsprogromnacht, nach Kapstadt Südafrika aus, wohin sein Sohn Manfred bereits 1934 geflüchtet war. Seine Tochter Margarete flüchtete 1939 mit ihrem Mann Hans Jacoby und ihrer Tochter Annette nach Nordrhodesien, jetzt Sambia. Sein erster Sohn Ludwig, ebenfalls Arzt, war bereits 1929 an den Folgen einer Operation zur Entfernung eines Gehirntumors, verstorben. Lothar und Frieda Conitzer erreichten Kapstadt mittellos. Sie waren auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen. Beide starben 1947 in Kapstadt. Lothar am 09.07.1947 und Frieda am 27.11.1947 [6]. Ihre Enkelin Annette Stannett schrieb über sie in ihrer Biographie „The colours of my life“:  „The loving devotion that I sensed between my grandparents, and equally between my parents, made me feel safe and secure when I was young.” [5]

Lothar Conitzer und seine Enkelin Annette Stannett (geb. Jacoby)

Wiedergutmachung

Lothar Conitzer starb, bevor die Wiedergutmachung der Bundesrepublik Deutschland überhaupt begann. Seine Erben Manfred Conitzer und Margarete Jacoby setzten die Ansprüche in der Hansestadt Hamburg durch. In der Wiedergutmachungsakte ist zu lesen, dass Entschädigungen gezahlt worden sind. Der Abschluss der Wiedergutmachung zog sich bis zum 1.1.1967 hin. Der materielle Schaden ist ersetzt worden. Trotzdem kämpfen wir alle bis heute mit dem immateriellen Schaden der damaligen politischen Entscheidungen in Deutschland.[6]

Epilog

Die Tornquiststrasse 9 gibt es nicht mehr. Wir erinnern uns trotzdem zweimal die Woche an den Philanthropen und Arzt Lothar Conitzer und seine Opern singende Gattin Frieda, wenn wir wieder durch ihr Wohnzimmer fahren.

Quellen:

  1. Hamburger Fremden Blatt Nr 146, 25. Juni 1894, Link: https://pdf.sub.uni-hamburg.de/kitodo/PPN1699277745_18940625.pdf
  2. Hamburger Neueste Nachrichten Nr 106, 8. Mai 1900, Link: https://pdf.sub.uni-hamburg.de/kitodo/PPN1012344886_19000508.pdf
  3. Über die operative Behandlung der pleuritischen Exsudate im Kindesalter mit besonderer Berücksichtigung der eitrigen, 13.03.1888, Lesser Conitzer, Link:  https://play.google.com/store/books/details?id=79WORp7fOnMC&rdid=book-79WORp7fOnMC&rdot=1&pli=1
  4. Wikipedia, Emil du Bois-Reymond, Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Emil_du_Bois-Reymond
  5. The colours of my life, Annette Stannett, 2004
  6. Wiedergutmachungsakte Erbengemeinschaft Dr. Conitzer, Lesser, Akte 0702 65, Freie und Hansestadt Hamburg Amt für Wiedergutmachung
  7. Wikipedia, M. Conitzer & Söhne, Link: https://de.wikipedia.org/wiki/M._Conitzer_%2526_S%C3%B6hne

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